Wie lästige Untermieter führen sich manche Gedanken in unserem Kopf auf: Sie nehmen zu viel Raum ein, sind laut, aufdringlich, erzeugen Angst und sorgen für Dauerstress. Es sind solche wie „Ich darf keine Schwäche zeigen, sonst verlieren Mitarbeitende den Respekt vor mir“ oder „Bei der Präsentation darf nichts schiefgehen, sonst verliere ich den Kunden“.
Wer würde diese Gedanken nicht gern loswerden? Sie schaden mehr, als das sie nutzen. Im schlimmsten Fall treiben sie uns in den Burnout. Doch wie wird man sie los?
Wer es mal probiert hat, möglicherweise mit Meditation oder Achtsamkeit, weiß: Einfach ist es nicht. Aber eine Methode soll zuverlässig und ziemlich wirksam sein: Introvision. Sie ist eine Selbstmanagement-Methode und wurde von der 2023 verstorbenen Psychologie-Professorin Angelika Wagner an der Universität Hamburg entwickelt und erforscht.
Introvision soll dabei helfen, auch in schwierigsten Momenten gelassen zu bleiben. Studien haben ihre Wirksamkeit belegt – etwa bei chronischen Nackenverspannungen, bei Nachwuchsführungskräften, die sich gestresst fühlen, und bei Leistungssportlern, die unter dem Wettkampfdruck leiden.
Woher kommt es, dass wir uns innerlich Stress machen oder gar in Panik vor Herausforderungen geraten? Wie genau kann mir Introvision dabei helfen, diese Probleme loszuwerden? Wie wende ich sie an? Und was ist ihr Vorteil gegenüber anderen Methoden?
Wie wir uns Stress machen und wie Introvision hilft
Laut Angelika Wagner sind wir oft gestresst, wenn wir mit inneren Konflikten kämpfen. Diese entstehen, wenn wir einen Soll-Zustand im Kopf haben. Vor einer Präsentation zum Beispiel: Wir wollen souverän sein, rhetorisch top und professionell.
Der Ist-Zustand ist ein anderer: Wir sind nervös, schwitzen und verhaspeln uns. Dagegen kämpfen wir innerlich an, indem wir uns befehlen: „Ich muss souverän wirken!“.
Hilft das? Eher nicht. Es sei, als würden wir an „die Grenzen unserer Fähigkeit der Selbststeuerung stoßen“, schreibt Angelika Wagner in ihrem Buch „Introvision. Problemen gelassen ins Auge schauen“. Zwar können diese Befehle akut helfen, seien aber nur ein Notfallprogramm. Auf Dauer sind solche Anweisungen zu energiefressend. Das Ziel von Introvision ist es, diese inneren Konflikte aufzulösen und dass wir uns mit dem Problem nicht mehr beschäftigen müssen. „Das Endloskreisen der Gedanken“ höre auf, schreibt die Wissenschaftlerin Angelika Wagner.
Von der Wirksamkeit der Methode ist auch der Psychologe, Coach und Introvisionsexperte Ulrich Dehner aus Konstanz überzeugt: „Mit der Introvision löschen wir innere Alarme.“ Er wendet sie regelmäßig bei Coachees an. Mit inneren Alarmen meint er unsere Reaktionen auf etwas, das wir als bedrohlich empfinden. Das kann von Rückenschmerzen („Ich darf auf keinen Fall krank ausfallen“) bis Prüfungsangst („Ich darf nicht durchfallen“) alles sein.
Das Ergebnis von Introvision: tiefe Gelassenheit
Dass Introvision die inneren Alarme ausschalte, unterscheide sie von vielen anderen Anti-Stress-Methoden, meint Dehner. Er vergleicht das mit einem Dampfkochtopf: „Die meisten Methoden gehen ans Ventil.“ Um Stress abzubauen, meditieren manche Menschen, andere machen Atemübungen, Sport, Yoga et cetera. „So nehmen sie den Druck aus dem Kessel. Die Introvision stellt die Herdplatte ab“, erklärt Dehner. Das Ergebnis: eine tiefe Gelassenheit.
Doch wie genau funktioniert die Introvision? Sie basiert auf zwei Säulen: dem Konstatierenden Aufmerksamen Wahrnehmen (KAW) und der Imperativanalyse. Das sind kompliziert klingende Fachbegriffe, die abschreckend wirken, aber Simples meinen. Ein Anleitung in fünf Schritten.
Schritt 1: Aufmerksames Wahrnehmen üben
Das Konstatierende Aufmerksame Wahrnehmen ist eine Art Entspannungsmethode und die Basis für die Introvision. Konstatieren bedeutet hier, etwas wahrzunehmen, ohne es zu bewerten. Aufmerksam heißt: Wir nehmen wirklich alles wahr, was wir in unserem Blickfeld sehen, was wir hören, spüren, fühlen und denken, aber halten dabei den Fokus auf eine Sache.
Introvisionserfinderin Wagner vergleicht das mit einem Theaterscheinwerfer: Er beleuchtet die ganze Bühne, richtet den hellsten Punkt aber auf die Hauptdarstellerin.
Diese Übung veranschaulicht, was damit gemeint ist: Setz dich hin und nimm alles wahr, was du gerade hörst, spürst, siehst, fühlst. Richte dann deinen Fokus auf einen Gegenstand, zum Beispiel einen Bürostuhl. Betrachte ihn drei Minuten lang: Welche Form hat er? Welche Farbe hat der Bezug? Wie sehen die Armlehnen aus?
Bewerten gilt es zu verkneifen
Gleichzeitig nimmst du wahr, was in dein erweitertes Blickfeld fällt: der Teppich unter dem Stuhl, der Schreibtisch und so weiter. Vielleicht schießen dir Gedanken in den Kopf: „Die Armlehnen sind aber dreckig. Die müssten mal sauber gemacht werden.“ Dieses Bewerten und Analysieren gilt es, sich zu verkneifen. Es geht nur ums Konstatieren („Aha, die Lehnen sind dreckig.“) Beim Betrachten schweifen vielleicht die Gedanken ab („Ich muss mich noch um den Bericht kümmern.“). Auch das solltest du nur wahrnehmen und dich wieder auf den Stuhl konzentrieren.
„Wir sind gewohnt, aktiv nachzudenken“, so Dehner. Vielen falle es schwer, Gedanken nur zu erkennen und ziehen zu lassen. Hier hilft es, sich vorzustellen, dass man eine Demonstration beobachtet: Menschen laufen mit Schildern vorbei. „Auf jedem steht einer meiner Gedanken. Ich fange aber nicht an, mit den Menschen zu diskutieren“, so Dehner.
Schritt 2: Probleme benennen
Wer Introvision bei einem Problem wie Angst vor Präsentationen anwenden will, konzentriert sich beim KAW natürlich nicht auf einen Bürostuhl, sondern auf das Problem selbst. In der Eingangsphase der Introvision wird deshalb festgelegt, woran man arbeiten möchte. Hat man das Problem benannt, so betrachte man es konstatierend und aufmerksam (was fühle, denke, höre, sehe ich?).
Auf diese Weise nimmt man ihm die bedrohliche Wirkung. So die Theorie. „Man richtet sozusagen den Blick auf die emotionale ,heiße Kartoffel‘“, erklärt Norbert Distler, Coach und Introvisionsexperte aus Starnberg. Man schaue sie und all die Gedanken und Gefühle an, die man dabei hat („Aha, das ist unangenehm“). Noch einmal: Es geht nicht um Bewertung oder ein inneres Ankämpfen („Ich muss was unternehmen!“), sondern um Akzeptanz.
Schritt 3: Imperative analysieren
Laut Wagner entstehen innere Konflikte, und damit Stress, durch Befehle, die wir uns geben. Es sind diese typischen „Ich muss“-Sätze oder „Ich darf nicht“-Formulierungen, auf die wir gedanklich zurückgreifen, wenn sich unser Ist-Zustand nicht mit dem Soll-Zustand deckt, zum Beispiel: „Ich muss professionell wirken.“ Oder: „Ich darf keine Fehler machen.“
Wagner nennt sie Imperative. Bei der Introvision analysiert man: Was genau befehle ich mir? Was darf nicht sein? Auch diese Imperative nimmt man konstatierend wahr. Dafür nutzt man „Es kann sein, dass …“-Formulierungen. Befiehlt sich eine Führungskraft „Ich darf nicht Nein sagen, weil ich dann als nicht belastbar gelte!“, dann formuliert sie: „Es kann sein, dass ich als nicht belastbar gelte.“ Die Führungskraft sieht sozusagen dem Schlimmen konstatierend ins Auge.
Manchmal reicht es, den ersten Imperativ, der einem einfällt, umzuformulieren, um ihm die stressende Wirkung zu nehmen. Doch oft muss erst der Kern des inneren Konflikts gefunden werden. Das ist ein weiterer Schritt.
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Schritt 4: Dem Schlimmsten ins Auge sehen
Der Kern eines inneren Konflikts kann sich hinter einer ganzen Kette von Imperativen beziehungsweise Befehlen verstecken. Um den Kern zu finden, hilft es, immer wieder „Warum?“ zu fragen. Bei einer Geschäftsführerin, die Angst vor Präsentationen hat, kann die Kette so aussehen: „Ich darf nicht den roten Faden verlieren!“ Warum wäre das schlimm? „Weil ich dann unfähig wirke. Ich darf nicht unfähig wirken.“ Warum nicht? „Weil ich dann nicht akzeptiert werde.“
Löst die Aussage, nicht akzeptiert zu werden, ein unangenehmes Gefühl aus, könnte das der Kern des Konflikts sein. Um ihn aufzulösen, nimmt die Chefin feststellend wahr: „Es kann sein, dass mich niemand akzeptiert.“
Bei der Analyse kann es auf das exakte Wort ankommen
Manchmal kommt es bei der Imperativanalyse auf das exakte Wort an, das die Unruhe verursacht. Auch hier gilt es, herumzuprobieren. „Bei manchen springt etwa kein Alarm an bei dem Wort ,scheitern‘, bei ‚versagen‘ hingegen schon“, erklärt Ulrich Dehner. Er arbeitet mit einer Skala von eins bis zehn. Eins bedeutet „absolute innere Ruhe“, sieben „eskalierender akuter Konflikt“. Ab fünf lohnt es sich laut Dehner dranzubleiben, denn das sei ein Zeichen, das wirklich ein innerer Konflikt vorliege.
Laut Introvisionscoach Norbert Distler liegen die Kernkonflikte oft nah an den Empfindungen, die der US-amerikanische Psychologe und Erfinder der Verhaltenstherapie, Aaron Beck, beschrieb: hilflos, wertlos, ungeliebt. Formuliere man diese konstatierend („Es kann sein, dass ich wertlos bin“), löse das starke Reaktionen aus. „Wie im Feuer stehen – so beschreiben das manche“, erklärt Norbert Distler. Diese starken Reaktionen seien ein sicheres Anzeichen, dass man auf einen Kernkonflikt gestoßen sei.
Schritt 5: Den Alarm ausschalten
Doch wie schalte ich den Alarm aus beziehungsweise lösche das Feuer? Den Satz, der mit „Es kann sein, dass …“ beginnt, schreibst du im genauen Wortlaut auf. Danach wiederholst du den Satz täglich mit KAW, also beim Aufmerksamen Wahrnehmen.
Dehner gibt ein Beispiel aus seiner Praxis: Ein Geschäftsführer kommt zu ihm, weil er Angst hat, ein wichtiges Projekt in den Sand zu setzen. Als Erstes leitet der Coach ihn an, in die sogenannte weite Wahrnehmung zu gehen: Was nimmt er jetzt und hier auf Körper-, Gefühls- oder Gedankenebene wahr?
Bedrohliche Gedanken verlieren ihre Wirkung
Dann fordert er ihn auf, in dieser weiten Wahrnehmung zu bleiben, dabei dem Gedanken Raum zu geben „Es kann sein, dass ich mein Projekt in den Sand setze.“ Der Geschäftsführer soll wahrnehmen, was er dabei spürt, fühlt und denkt. Er gibt die Stärke seines inneren Alarms mit einer Sechs an. Der Coach lässt ihn vier, fünf Mal diesen Satz konstatierend und aufmerksam wahrnehmen. Auch zu Hause soll der Geschäftsführer seinen Alarm-Satz täglich annehmend wahrnehmen. So verliert dieser mit der Zeit seine bedrohliche Wirkung. „Nach einer bis drei Wochen ist der Alarm dann gelöscht“, sagt Ulrich Dehner. Der Experte selbst sei immer wieder überrascht, wie schnell Introvision wirke.
Wer die Wirkung von Introvision in Ansätzen testen möchte, dem empfiehlt Distler, zwei bis drei Minuten nichts zu tun und sich dabei zu beobachten: Vielleicht taucht ein Gedanke auf wie „Ich muss rechtzeitig beim nächsten Termin sein“. Diesen formuliert man um: „Es kann sein, dass ich es nicht rechtzeitig schaffe.“ Dabei beobachtet man gelassen, wie man innerlich reagiert. Oft entspanne allein dieser Satzanfang: „Es kann sein, dass …“.
Die Introvision ist als Methode gedacht, die jeder selbst durchführen kann. Doch bei starken Kernkonflikten kann die Hilfe eines Experten sinnvoll sein. Introvisionscoaches findest du beim Bundesverband Introvision und in der Datenbank der Introvisions-Association.
Um sich weiterzuentwickeln, ist es sinnvoll, seine eigenen Motive und Verhaltensweisen zu hinterfragen. Ein Fragebogen, der dir zeigt, wie selbstreflektiert du bist, findest du hier zum Download.
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