impulse: Herr Rein, Sie sind Psychiater mit dem Spezialgebiet Depressionen – wie äußert sich eine hochfunktionale Depression?
Martin Rein: Die Betroffenen haben weniger Energie, sind niedergeschlagen und haben kaum noch Spaß am Leben – wie man das auch von einer „klassischen“ depressiven Episode kennt. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass man ihnen die Symptome von außen nicht direkt ansieht. Sie bewältigen ihren privaten und beruflichen Alltag durchaus erfolgreich, allerdings mit sehr großem Aufwand. Zusammenfassend: Die Betroffenen sind krank – und niemand erkennt es.
Die meisten Menschen haben von dieser Diagnose vermutlich noch nie etwas gehört.
Offiziell gilt die hochfunktionale Depression bislang nicht als eigenständige psychische Krankheit. Der Begriff bekam 2022, durch den Suizid einer Amerikanerin namens Cheslie Kryst, viel Aufmerksamkeit. Die ehemalige Miss USA und erfolgreiche Anwältin schien ein perfektes Leben zu führen – sie war eine intelligente, wunderschöne Frau mit viel Medienpräsenz. Und plötzlich stürzte sich diese Person aus einem Hochhaus. Die Mutter sagte in einem Interview, dass ihre Tochter seit langem unter Depressionen litt, doch hochfunktional blieb. Ein radikales Beispiel – ab da kam dieser Begriff ins öffentliche Bewusstsein.
Gibt es Persönlichkeitstypen, die eher zu einer hochfunktionalen Depression neigen?
Menschen, die gewisse Persönlichkeitszüge mitbringen – wie eine starke Leistungsorientierung oder ein hohes Verantwortungsbewusstsein –, sind besonders anfällig. Das sind oft „Overachiever“, die ihren Job gegenüber anderen Lebensbereichen wie Familie, sozialen Kontakte oder Sport stark priorisieren.
Zählen zu diesen Leistungsträgern auch Unternehmer und Unternehmerinnen?
Allerdings! Zu mir in die Praxis kommen viele Unternehmer und Führungskräfte, die unter enormen Druck stehen. Denn sie haben häufig ein hohes arbeitsbezogenes Selbstverständnis und leben von einer großen Gratifikation im beruflichen Kontext. Gleichzeitig sind sie meist einem hohen Stresslevel ausgesetzt und arbeiten in Settings, die stark erfolgsorientiert sind und ein dauerhaft hohes Funktionsniveau voraussetzen. Und so versuchen sie oft, sehr hohen Ansprüchen gerecht zu werden.
Erkennen Betroffene selbst, dass sie an einer hochfunktionalen Depression leiden?
Am Anfang nicht unbedingt. Das Problem kann eine Zeitlang ganz gut kompensiert werden – durch Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol können Leistungsgrenzen kurzfristig und auch über längere Zeit überschritten werden. Viele reagieren auch erst einmal mit Bewältigungsstrategien, die sie vom Spüren ablenken, wie zum Beispiel Alkohol oder starkem Medienkonsum. Das hilft, die Probleme vorerst wegzuschieben, anstatt sich damit auseinanderzusetzen.
Das geht wahrscheinlich nicht ewig so weiter.
Irgendwann sinkt die Lebensqualität deutlich und typische Symptome treten auf: Die Betroffenen schlafen schlecht und sind nur noch müde. Viele berichten in meiner Praxis von einem starken Abfall der geistigen Leistungsfähigkeit, insbesondere der Konzentrationsfähigkeit. Sie sagen zum Beispiel: „Ich saß da und konnte nicht einmal mehr eine Mail beantworten, obwohl ich vorher komplexe Prozesse betreut habe.“ Mit der Zeit kommen Selbstzweifel, Versagensängste oder sogar Panikattacken hinzu. Auch körperliche Symptome wie Herzstolpern, Verspannungen, Appetitlosigkeit oder Heißhunger sowie Kopfschmerzen treten auf – bis diese Menschen irgendwann zusammenbrechen.
Woran erkennt man eine hochfunktionale Depression bei anderen?
Ein häufig sichtbares Zeichen ist eine deutlich niedrigere Stresstoleranz. Dann reichen wenige Tropfen – etwa eine zusätzliche einfache Aufgabe im Job oder Hindernisse – und das Fass läuft über. Auch, dass Menschen weniger Freude empfinden, ist erkennbar: Wenn jemand sonst fröhlich und gut gelaunt war und sich plötzlich zurückzieht, wortkarger wird oder zynische Bemerkungen macht.
Was kann man als Kollege oder Führungskraft tun, wenn man befürchtet, dass jemand betroffen sein könnte?
Wichtig ist, dass man die Personen offen anspricht und als Führungskraft zum Beispiel sagt: „Ich habe gemerkt, du bist schnell gestresst, lachst gar nicht mehr. Was ist denn los? Kann ich dich irgendwie unterstützen?“ Ohne zu werten, sondern indem man einfach sagt, was man wahrnimmt, und Hilfe anbietet. Das gilt übrigens auch im privaten Umfeld.
Was kann denn helfen?
Psychotherapeuten oder Coaches können unterstützen. Ich setze mich bei der Behandlung ganz intensiv mit der Persönlichkeit der Betroffenen auseinander. Damit sie lernen, flexibler mit der Situation umzugehen – und verstehen, dass sie die hohe Leistung nicht langfristig erbringen können. Sie müssen erkennen, dass sie krank sind und sich vielleicht sogar eine Zeitlang rausnehmen müssen. Auch Mental-Health-Apps können überbrückend helfen. Bei starken Symptomen kann auch der temporäre Einsatz von Medikamenten notwendig sein.
Woran wird dann konkret gearbeitet?
Um langfristig seine mentale Gesundheit zu fördern, lohnt es sich, in vier gesunde Routinen zu investieren: Sport, soziale Kontakte, ausgewogene Ernährung und guten Schlaf. Das klingt einfach, aber besonders Leistungsträger stehen vor der Herausforderung, diese Routinen gegenüber ihrem hochgetakteten Alltag zu verteidigen. Die Kunst besteht darin, diese Routinen einzuführen und beizubehalten – leider ist die Realität, dass die eigene Gesundheit etwa gegenüber einem wichtigen Meeting häufig den Kürzeren zieht. Verhaltensänderungen erfordern viel Disziplin. Aber die gute Nachricht ist, dass der Return-of-Invest groß ist. Sonst muss man irgendwann die Rechnung zahlen. Das ist leider so.
Was sind die Ursachen einer hochfunktionalen Depression?
Bei Depressionen liegt der genetische Einfluss gerade mal bei etwa 30 bis 40 Prozent. Daher sind das soziale Umfeld und die psychologischen Faktoren sehr entscheidend. Dabei spielen starre Glaubenssätze eine Rolle – zum Beispiel: „Ich muss perfekt sein“, „Ich darf mir keine Fehler erlauben“ oder „Ich muss das alleine schaffen“. Hinzu kommt das gesellschaftliche Stigma, dass man mit einer psychischen Erkrankung möglicherweise als dauerhaft geschädigt oder nicht leistungsfähig angesehen wird. Viele Betroffene haben eine enorme Angst davor, sich anderen anzuvertrauen und kommen sich zunehmend wie Blender vor. Das führt zu sozialer Isolation und macht es schwer, rechtzeitig Hilfe zu suchen und anzunehmen.
Macht es Ihrer Meinung nach Sinn, eine Unternehmenskultur grundsätzlich weniger auf Leistung auszurichten?
Ich halte Leistungsorientierung für extrem wichtig – denn wenn es keine Leistungsträger gibt, haben wir ein gesellschaftliches Problem. Aber: Jeder Wert kann kippen, wenn er ins Extreme geht. Deshalb sollte eine gesunde Balance bestehen und das grundsätzliche Verständnis, wie wichtig mentale Gesundheit ist. Jeder findet es logisch, den Körper zu trainieren, aber bei der Psyche ist das Verständnis oft noch nicht vorhanden. Wir unterstützen daher unsere Patienten intensiv bei diesem inneren Wachstum.
Der Experte
Der Psychiater und Neurologe Martin Rein ist Chefarzt an der Oberberg Tagesklinik München. Er ist spezialisiert auf Depressionen, Burnout und Angststörungen.
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